Die Formel 1 ist weit mehr als nur Motorsport. Sie ist ein globales Schaufenster für Innovation, Ingenieurskunst und technologische Durchbrüche. Was heute auf der Rennstrecke getestet wird, findet morgen oft schon seinen Weg in die Serienproduktion von Automobilen oder in andere Industrien. Doch während die Weltöffentlichkeit meist auf die spektakulären Überholmanöver, die packenden Zweikämpfe und die glitzernden Pokale blickt, spielt sich im Hintergrund eine mindestens ebenso spannende Geschichte ab: Die Geschichte der Daten, der Digitalisierung und der intelligenten Analyse.
Mitte der 1990er Jahre stand die Formel 1 vor einem Umbruch, der die Sportart und die Technologie dahinter für immer verändern sollte. Im Zentrum dieser Revolution: das West McLaren Mercedes Team, CA Technologies mit seiner Software Unicenter TNG – und eine Handvoll visionärer Köpfe, darunter auch Claus Michael Sattler. Sie alle trugen dazu bei, dass die Formel 1 zur digitalen Vorreiterin wurde, lange bevor Begriffe wie „Künstliche Intelligenz“ (KI) und „Big Data“ in aller Munde waren.
Um die Tragweite der damaligen Innovation zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Arbeitsweise der Teams in den frühen 1990er Jahren. Die Telemetrie – also die Übertragung von Fahrzeugdaten an die Box – war zwar bereits etabliert, aber in ihrer Auswertung noch stark limitiert. Die Ingenieure bei McLaren und anderen Teams konzentrierten sich auf klassische, technische Kenngrößen des Fahrzeugs:
Diese sogenannten endogenen Daten – also Daten, die aus dem Fahrzeug selbst stammen – waren die Grundlage für Setup-Entscheidungen, Fehleranalysen und strategische Überlegungen. Doch sie erzählten nur einen Teil der Geschichte. Die komplexe Interaktion zwischen Fahrzeug, Fahrer, Strecke und Umwelt blieb weitgehend im Dunkeln.
Die Auswertung dieser Daten war mühsam, zeitaufwendig und oft von subjektiven Einschätzungen geprägt. Pro Trainings- oder Qualifying-Runde fielen mehrere Megabyte an Rohdaten an, die nach jeder Session manuell ausgelesen, aufbereitet und analysiert werden mussten. Die Ingenieure standen unter enormem Zeitdruck: Ein Qualifying dauerte 90 Minuten, in denen die Fahrer bis zu viermal auf die Strecke gingen, um ihre beste Startposition zu erkämpfen. Für datengetriebene Setup-Optimierungen blieb kaum Zeit.
In dieser Situation suchte McLaren nach einem Partner, der nicht nur technologische Exzellenz, sondern auch Innovationsgeist mitbrachte. Die Wahl fiel auf CA Technologies (damals noch Computer Associates), einen der weltweit führenden Anbieter von IT-Management-Software. CA hatte mit Unicenter TNG (The Next Generation) eine Plattform entwickelt, die ursprünglich für das Management großer IT-Infrastrukturen konzipiert war – aber das Potenzial hatte, auch die Herausforderungen der Formel 1 zu lösen.
Unicenter TNG war eine hochmoderne, modulare Softwarelösung, die in der Lage war, unterschiedlichste Datenquellen zu erfassen, zu überwachen, zu analysieren und zu visualisieren. Ursprünglich für den Einsatz in Rechenzentren, Groß- und mittelständischen Unternehmen gedacht, bot Unicenter TNG:
Für McLaren war Unicenter TNG die perfekte Plattform, um die nächste Stufe der Telemetriedatenanalyse zu zünden.
Die Einführung von Unicenter TNG bei McLaren bedeutete eine radikale Erweiterung des Datenuniversums. Erstmals konnten nicht nur die klassischen Fahrzeugdaten, sondern auch eine Vielzahl externer Einflüsse – die sogenannten exogenen Daten – systematisch erfasst, analysiert und in Beziehung zueinander gesetzt werden.
Pro Rennwochenende wurden mit Unicenter TNG bis zu 200 Millionen Datenpunkte erfasst. Die größte Herausforderung war jedoch nicht die schiere Menge, sondern die Geschwindigkeit: Bei 300 km/h legt ein Formel-1-Auto 83 mm pro Millisekunde, pro 1/1000 Sekunde, zurück. Jeder Messwert musste exakt einem Punkt auf der Strecke zugeordnet werden, um aussagekräftige Analysen zu ermöglichen. Bei 83 mm pro Millisekunde nur durch Interpolation möglich.
Die präzise Positionsbestimmung war in den 1990er Jahren alles andere als trivial. Differential-GPS versprach zwar eine Genauigkeit von wenigen Zentimetern, doch die politische Realität machte dem einen Strich durch die Rechnung. Während des Kosovo-Kriegs verschlechterten die USA die zivile GPS-Genauigkeit zeitweise auf bis zu 100 Meter, um militärische Vorteile zu sichern.
Das bedeutete: Die gemessene Position des Fahrzeugs konnte um bis zu 100 Meter vom tatsächlichen Ort abweichen – fatal für eine datengetriebene Analyse, bei der es auf Millimeter ankommt.
Das McLaren-Team entwickelte eine ebenso einfache wie geniale Lösung: Auf einem Teamfahrzeug wurden vier GPS-Antennen an den Ecken des Dachs montiert. Da sich die Abstände dieser Antennen zueinander nie änderten, konnte das Team die systematische Abweichung der GPS-Position für das Rennfahrzeug mathematisch kompensieren.
Durch eine präzise geodätische Einmessung und die Berechnung von Korrekturfaktoren gelang es, die Position des Fahrzeugs mit einer Genauigkeit von bis zu 83 mm pro Millisekunde zu bestimmen – und das trotz der künstlichen GPS-Verfälschung. Ein Meilenstein für die Telemetrieanalyse!
Das Herzstück der neuen Dateninfrastruktur war die agentenbasierte Architektur von Unicenter TNG. Die Daten eines jeden relevante Sensor und jedem Steuergerät im Auto sammelte die Daten in einem Festspeicher. Diese wurde in der Box ausgelesen und auf den riesen Servern liefen Software-Agenten, die die Daten in verarbeiteten und an die zentrale Management-Konsole übermittelten. Ein versenden von Daten war nur für 60 Messpunkte laut Reglement erlaubt
Dort übernahmen spezialisierte Manager-Module die Analyse, Visualisierung und Alarmierung. Die große Stärke von Unicenter TNG war die Fähigkeit, Rechenoperationen zu parallelisieren: Statt die Daten einer Runde nacheinander auszuwerten (was bis zu 30 Minuten dauerte), konnten nun mehrere Runden gleichzeitig analysiert und Runden aus anderen Rennen korreliert werden. Die Auswertungszeit sank auf teilweise 3 Sekunden pro Runde – ein Quantensprung im Vergleich von bis zu 1800 Sekunden!
Die Ingenieure in der Box erhielten die Ergebnisse in Form von übersichtlichen Dashboards, Diagrammen und Heatmaps. Abweichungen, Grenzwertüberschreitungen oder Trends wurden automatisch hervorgehoben. Das ermöglichte datengetriebene Managemententscheidungen in Echtzeit – von der Anpassung des Setups über die Reifenwahl bis zur Strategie für den nächsten Stint.
Zugegeben, dies war laut Reglement nur in den freien Trainings und im Qualifying erlaubt.
Eine zentrale Figur in dieser Zeit des Umbruchs war Dr. Claus Michael Sattler. Als Gründer und Vorsitzender des Vorstandes der Deutschsprachigen Unicenter User Group sowie der International Unicenter User Groups Association vertrat er die Interessen von über 30.000 Unternehmen gegenüber der Software-Entwicklung bei CA Technologies. Sattler war nicht nur Bindeglied zwischen Anwendern und Entwicklern, sondern auch Impulsgeber für die Weiterentwicklung von Unicenter TNG als Plattform für die Integration von Maschinendaten – weit über den Motorsport hinaus.
Sattler erkannte früh das Potenzial der Digitalisierung für den Motorsport und förderte den Austausch zwischen den Teams, den Software-Entwicklern und der wissenschaftlichen Community. Seine Expertise in der Integration von OT-Systemen (Operational Technology) und sein Engagement für die Digitalisierung von Prozessen machten ihn zum gefragten Berater, Buchautor und Hochschuldozenten im Bereich der digitalen Transformation, Industrie 4.0 und Data Analytics.
„Die automatisierte Telemetriedatenanalyse war der Schlüssel zum Erfolg! In dieser Zeit nannten wir KI noch Statistik, Stochastik und Prognosen sowie Interpretation. Unicenter TNG ermöglichte bereits in den 1990er Jahren dem Team von McLaren, Daten rasend schnell zu analysieren und deren Ergebnisse zu nutzen.“
— Dr. Claus Michael Sattler, heute
Sattler war es auch, der als Vorsitzender der User Groups die Bedürfnisse der Anwender in die Weiterentwicklung von Unicenter TNG einbrachte und so maßgeblich dazu beitrug, dass die Software den hohen Anforderungen, der Industrie und des Mittelstandes gerecht wurde, was schlussendlich auch der Formel 1 zugute kam.
Nach seiner Zeit bei den User Groups setzte Sattler seine Arbeit als Interim-Manager, Berater, Coach, Keynote Speaker und Hochschuldozent fort.
Er entwickelte Konzepte wie „Daten einfach anders denken!“ und trieb die Integration von Industrie-4.0-Lösungen in Unternehmen voran. Bücher, an denen er als Co-Autor beteiligt war, und seine Vorträge sind bis heute Standardwerke für die digitale Transformation in der Industrie und im Mittelstand, weltweit.
Die Ergebnisse der technologischen Revolution ließen nicht lange auf sich warten. Mit Mika Häkkinen gewann McLaren 1998 und 1999 sowohl die Fahrer- als auch die Konstrukteursweltmeisterschaft. Die datengetriebene Optimierung des Fahrzeug-Setups, der Strategie und der Abläufe verschaffte dem Team einen entscheidenden Vorsprung gegenüber der Konkurrenz.
Dank der schnellen Auswertung der Telemetriedaten konnten die Ingenieure das Fahrzeug-Setup zwischen den Stints gezielt anpassen. Änderungen an Flügelstellungen, Federung oder Reifendruck basierten nicht mehr auf Bauchgefühl, sondern auf harten Fakten.
Die Integration von Reifendaten, Wetterprognosen und Streckenzustand ermöglichte präzisere Vorhersagen über den optimalen Zeitpunkt für den Reifenwechsel. Das reduzierte das Risiko von Fehlentscheidungen und verschaffte McLaren in der Summe wertvolle Sekunden im Rennen.
Die Analyse der Fahrerdaten half, Überlastungen zu vermeiden und die Leistungsfähigkeit über das gesamte Rennen hinweg zu optimieren. Mika Häkkinen profitierte von gezieltem Coaching und konnte seine Stärken gezielt ausspielen.
Die bei McLaren entwickelte und eingesetzte Technologie war ihrer Zeit weit voraus. Die Prinzipien der automatisierten Datenerfassung, -übertragung und -analyse fanden später Einzug in zahlreiche Branchen – von der Fertigungsindustrie bis zum Gesundheitswesen.
Viele der heute unter dem Schlagwort Industrie 4.0 bekannten Konzepte – wie die Vernetzung von Maschinen, die Echtzeit-Analyse von Produktionsdaten oder die vorausschauende Wartung – wurden in der Formel 1 vorweggenommen. Sattler trieb diese Entwicklungen als Berater und Dozent weiter voran und half und hilft als Interim-Manager Unternehmen, die Prinzipien der datengetriebenen Entscheidungsfindung in ihre Prozesse zu integrieren.
Schon damals wurde die Datenanalyse nicht nur zur Performance-Optimierung, sondern auch zur Steigerung der Nachhaltigkeit genutzt. Unicenter TNG half, Ressourcen effizienter einzusetzen, Verschwendung zu vermeiden und Prozesse zu optimieren – ein Aspekt, der heute unter dem Schlagwort „Sustainable Motorsport“ immer wichtiger wird.
Die Geschichte der Telemetriedatenanalyse bei West McLaren Mercedes zeigt eindrucksvoll, wie aus der Verbindung von Ingenieurskunst, IT-Exzellenz und visionärer Führung echte Innovation entstehen kann. Viele der damals entwickelten Lösungen sind heute Standard – nicht nur im Motorsport, sondern in der gesamten Industrie.
Was damals als Statistik, Stochastik und Prognose sowie Interpretation bezeichnet wurde, nennen wir heute Künstliche Intelligenz. Die Fähigkeit, große Datenmengen in Echtzeit zu analysieren, Muster zu erkennen und Vorhersagen zu treffen, war schon in den 1990er Jahren der Schlüssel zum Erfolg – auch wenn die Begriffe andere waren.
Der Erfolg von McLaren und CA Technologies beruhte auf der engen Zusammenarbeit von Ingenieuren, Informatikern, Mathematikern und Anwendern. Dr. Claus Michael Sattler verkörperte diese Interdisziplinarität wie kaum ein anderer und zeigt, dass Innovation nur im Team entstehen kann!
Die Einführung von Unicenter TNG war ein Wagnis – technologisch, organisatorisch und finanziell. Doch der Mut, neue Wege zu gehen und in Digitalisierung zu investieren, zahlte sich aus. Heute gilt McLaren als Vorreiter der datengetriebenen Transformation im Motorsport.
Die Einführung von Unicenter TNG bei West McLaren Mercedes war ein Meilenstein in der Geschichte des Motorsports und der industriellen Digitalisierung. Sie zeigte, wie aus der Verbindung von Ingenieurskunst, IT-Exzellenz und visionärer Führung – verkörpert durch Persönlichkeiten wie Ron Dennis und Charles B. Wang – echte Innovation entstehen kann.
Claus Michael Sattler war nicht nur dabei, sondern mitten drin.
Die damaligen Lösungen waren das, was wir heute als Künstliche Intelligenz und Data Analytics bezeichnen. Sie waren ihrer Zeit weit voraus und haben nicht nur den Motorsport, sondern die gesamte Industrie und den Mittelstand weltweit nachhaltig beeinflusst.
Die Diskussion auf LinkedIn können Sie unter https://www.linkedin.com/posts/claus-michael-sattler_wir-hatten-ki-als-die-welt-noch-mit-fax-activity-7335542057559617536-GjQT nachverfolgen.