Die pharmazeutische Industrie steht vor einer ihrer größten Herausforderungen seit Jahrzehnten. Während die Welt auf innovative Medikamente wartet, kämpfen Pharmaunternehmen mit steigenden regulatorischen Anforderungen, wachsenden Kosten und einer immer komplexer werdenden Produktion. In diesem Kontext avancieren Daten zum entscheidenden Erfolgsfaktor – sie ermöglichen es, Prozesse zu optimieren, Qualität zu sichern und Innovationen schneller auf den Markt zu bringen.
Daten sind heute das neue Gold – auch und das gerade in der Pharmabranche und im Gesundheitswesen.
Während früher die Entwicklung eines neuen Medikaments vor allem von Laborergebnissen, klinischen Studien und dem Know-how der Forscher abhing, spielen heute digitale Daten eine zentrale Rolle. Sie helfen, Produktionsprozesse zu verstehen, Fehler zu vermeiden und neue Wirkstoffe effizienter zu entwickeln. Doch der Weg von der Datensammlung zur datengesteuerten Produktion ist voller Hindernisse – wie die folgende Fallstudie zeigt.
Vor gut zehn Jahren trat ich als Interim-CDO in ein Pharmaunternehmen ein, das sich auf die Entwicklung und Produktion von Chemotherapeutika und HIV-Medikamenten spezialisiert hatte. Das Unternehmen blickte auf 40 Jahre Erfahrung zurück – ein immenser Schatz an Wissen, der jedoch in Papierakten, unstrukturierten Dateien und isolierten Systemen verborgen lag.
Die meisten Informationen lagen auf Papier vor. Auch wenn in vielen Bereichen bereits digitale Systeme eingesetzt wurden, fehlte es an einer einheitlichen, strukturierten Datenhaltung. Mitarbeiter erfassten Daten in Tabellen und Textdokumenten, die sie nach Bedarf anpassten – oft ohne Rücksicht auf GMP-Regeln (Good Manufacturing Practice) oder andere regulatorische Vorgaben.
Die Folge: Eine kaum überschaubare Vielfalt an Formaten und Strukturen, die eine zentrale Nutzung der Daten unmöglich machte.
In der Produktion kamen zahlreiche Sensoren und Datenlogger zum Einsatz, die Messwerte wie Temperatur, Druck, pH-Wert und andere Parameter erfassten. Doch diese Daten konnten nicht digital exportiert werden. Der Hersteller der Datenlogger verwies auf regulatorische Vorgaben der European Medical Agency (EMA) und der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) und weigerte sich, eine Schnittstelle bereitzustellen.
Die Folge: Die wertvollen Produktionsdaten blieben in den Geräten gefangen und konnten nicht für Analysen genutzt werden.
Über die Jahre hatte das Unternehmen eine schier unüberschaubare Menge an Datensätzen angesammelt: 1,6 Millionen Excel-, Word- und PDF-Dateien mit unterschiedlichsten Strukturen und Formaten. Jeder Mitarbeiter, jedes Projekt, jede Abteilung hatte eigene Verfahren zur Datenerfassung und -speicherung entwickelt.
Die Folge: Eine zentrale Nutzung dieser Daten war praktisch unmöglich.
Wissen war im Unternehmen stark fragmentiert. Viele Mitarbeiter besaßen „Kopfmonopole“ – ihr Wissen war nicht dokumentiert und / oder nur ihnen zugänglich. Die IT-Infrastruktur war in hermetisch getrennte Netze für Produktion, Facility-Management, Forschung und Entwicklung sowie Verwaltung aufgeteilt.
Die Folge: Ein Austausch von Daten zwischen den Bereichen war kaum möglich.
Das Unternehmen verfügte über keine zentrale Plattform zur Speicherung, Verwaltung und Analyse der Daten. Es fehlte an Software, die unstrukturierte Daten systematisch aufbereiten und nutzbar machen konnte.
Die Folge: Eine Echtzeitanalyse von Produktionsdaten aus den Bioreaktoren war nicht möglich.
Um aus dem Datenchaos eine Ressource zu machen, waren radikale Veränderungen notwendig. Die Lösungsansätze lassen sich in drei zentrale Maßnahmen zusammenfassen.
Die erste Herausforderung bestand darin, die getrennten Datenwelten zu verbinden – ohne die regulatorischen Vorgaben zu verletzen. Die Lösung war eine hochsichere „Einbahnstraße“: Eine Data-Bridge, die Daten aus Produktion, Forschung, Facility-Management und Verwaltung in eine zentrale Verwaltung transferierte. Diese Brücke war so konzipiert, dass sie die Integrität und Sicherheit der Daten garantierte und gleichzeitig die regulatorischen Anforderungen erfüllte.
Die Data-Bridge basierte auf einem speziell entwickelten Protokoll, das nur eine Richtung zuließ: von den Produktionsnetzen in die Verwaltung. Rückkanäle waren ausgeschlossen, um Manipulationen zu verhindern. Die Daten wurden vor dem Transfer verschlüsselt und nach der Übertragung auf ihre Integrität geprüft. So konnte sichergestellt werden, dass keine unerwünschten Änderungen vorgenommen wurden und die regulatorischen Vorgaben eingehalten wurden.
Im nächsten Schritt wurden alle Daten – unabhängig von Format und Struktur – in eine objektorientierte Datenbank überführt. Diese Datenbank war in der Lage, unterschiedliche Datenstrukturen zu übernehmen, zu konvertieren und für Analysen bereitzustellen.
Die Konversion der unstrukturierten Daten war eine der größten Herausforderungen. Hier kamen spezielle Tools zum Einsatz, die Texte, Tabellen und PDFs automatisch analysierten, strukturierten und in die Datenbank überführten. Dabei wurden Metadaten wie Erstellungsdatum, Autor und Kontext mitgespeichert, um die Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten.
Mit der Integration aller Daten war es möglich, eine Echtzeit-Datenanalyse aufzubauen. Diese Analyseplattform überwachte kontinuierlich alle Produktionsschritte – von der Kultivierung in den Bioreaktoren über die Aufreinigung (Upscale, Downscale, Filtration, Inaktivierung, Polishing) bis zur finalen Gewinnung der Drug Substance.
Die systematische Nutzung der Daten führte zu überraschenden Erkenntnissen, die das Unternehmen nachhaltig veränderten.
Die Analyse zeigte, dass die Qualität und Quantität der produzierten Wirkstoffe jahreszeitlichen Schwankungen unterliegen. Diese Schwankungen waren bisher unbemerkt geblieben, da sie in den unstrukturierten Daten verborgen waren. Durch die kontinuierliche Überwachung konnten diese Muster identifiziert und gezielt adressiert werden.
Die Echtzeitanalyse ermöglichte einen permanent aktuellen Überblick über alle Produktionsprozesse in allen Bioreaktoren und den nachgeschalteten Stufen. So konnten Probleme frühzeitig erkannt und behoben werden, bevor sie zu Qualitätsproblemen oder Produktionsausfällen führten.
Die Datenanalyse offenbarte, dass externe Faktoren wie Temperatur und Wetter einen signifikanten Einfluss auf die Produktion haben können. Diese Erkenntnis war der Ausgangspunkt für die Entwicklung von Vorhersagealgorithmen, die die Produktionsplanung und -steuerung maßgeblich veränderten.
Die konsequente Nutzung der Daten hatte messbare Auswirkungen auf die Produktion und die Unternehmensperformance.
Es wurden Algorithmen entwickelt, die den Einfluss von Wetter und Umgebungsbedingungen auf die Produktion vorhersagen konnten. Diese Algorithmen nutzten historische und aktuelle Daten, um die zu erwartende Qualität und Quantität der Drug Substance in Echtzeit zu prognostizieren – ohne Verzögerung.
Ein Algorithmus analysierte die Produktionsdaten der letzten fünf Jahre und korrelierte sie mit Wetterdaten. Dabei zeigte sich, dass bestimmte Wetterlagen (z.B. hohe Luftfeuchtigkeit im Sommer) zu einer erhöhten Variabilität in der Produktion führten. Der Algorithmus konnte diese Zusammenhänge erkennen und in die Prognose einbeziehen.
Durch die frühzeitige Erkennung von Einflussfaktoren, die zu Abweichungen können, und die gezielte Steuerung der Produktionsprozesse konnten die Schwankungen in Qualität und Quantität deutlich reduziert werden. Die Produktion wurde stabiler und vorhersehbarer.
Die Optimierung der Prozesse und die Reduktion von Abweichungen führten zu einer signifikanten Senkung der Produktionskosten. Ressourcen wurden effizienter eingesetzt, Ausschuss und „Nacharbeit“ reduziert.
Die zentrale Datenhaltung und die Echtzeitanalyse verbesserten die Transparenz und die Einhaltung regulatorischer Vorgaben. Jeder Produktionsschritt war nachvollziehbar und dokumentiert, was die Compliance mit GMP, EMA- und FDA-Anforderungen deutlich erleichterte.
Die Erfahrungen aus diesem Projekt zeigen, wie wichtig Datenmanagement und digitale Technologien für die Pharmabranche sind. Die digitale Transformation ist kein Selbstzweck, sondern eine Notwendigkeit, um wettbewerbsfähig zu bleiben und innovative Medikamente effizient zu entwickeln.
KI ermöglicht die Analyse großer Datenmengen, die Identifikation von Mustern und die Vorhersage von Produktionsergebnissen. So können Prozesse optimiert, Fehler frühzeitig erkannt und Ressourcen effizient eingesetzt werden.
Sensoren in Bioreaktoren und Produktionsanlagen liefern kontinuierlich Daten, die für die Überwachung und Steuerung der Prozesse genutzt werden können. IoT-gestützte Lösungen verbessern die Qualitätssicherung und die Effizienz der Produktion.
Die Blockchain-Technologie sorgt für Transparenz und Sicherheit in der Lieferkette. Jeder Schritt – von der Herstellung bis zur Auslieferung – kann nachvollzogen werden, was Fälschungen und Qualitätsprobleme verhindert.
Cloud-basierte Plattformen ermöglichen die zentrale Speicherung, Verarbeitung und Analyse von Daten. Big-Data-Analysen liefern wertvolle Erkenntnisse für Forschung, Entwicklung und Produktion.
Die größte Herausforderung besteht darin, Daten aus unterschiedlichen Quellen und Formaten zu integrieren und nutzbar zu machen. Eine zentrale Datenhaltung und standardisierte Schnittstellen sind entscheidend.
Die Einhaltung von GMP, EMA- und FDA-Vorgaben ist unerlässlich. Digitale Lösungen müssen so konzipiert werden, dass sie die regulatorischen Anforderungen erfüllen und die Integrität der Daten garantieren.
Die digitale Transformation erfordert einen Kulturwandel im Unternehmen. Mitarbeiter müssen bereit sein, neue Technologien zu nutzen und Wissen zu teilen. Kopfmonopole und isolierte Arbeitsweisen müssen überwunden werden.
Die Einführung digitaler Technologien erfordert qualifizierte Mitarbeiter. Unternehmen müssen in Weiterbildung und neue Berufsbilder investieren.
Um die Vorteile der datengesteuerten Produktion zu verdeutlichen, folgt ein exemplarischer Tagesablauf:
Die Produktionsleitung startet den Tag mit einem Blick auf das zentrale Dashboard. Dort sehen sie den aktuellen Status aller Bioreaktoren, die laufenden Prozesse und eventuelle Abweichungen. Ein Alarm zeigt an, dass in einem Bioreaktor die Temperatur leicht über dem Sollwert liegt. Das Team greift sofort ein und passt die Einstellungen an.
Die Echtzeitanalyse überwacht kontinuierlich alle Produktionsschritte. Die Algorithmen prognostizieren, dass aufgrund der aktuellen Wetterlage die Ausbeute in einem bestimmten Prozessschritt leicht sinken könnte. Die Produktionsplanung wird entsprechend angepasst.
Die Tagesdaten werden automatisch in die zentrale Datenbank überführt und mit historischen Daten abgeglichen. Die Auswertung zeigt, dass die Produktion stabil und effizient verlaufen ist. Die Compliance-Dokumentation ist vollständig und steht für Audits zur Verfügung.
Die digitale Transformation in der Pharmabranche ist kein kurzfristiger Trend, sondern eine grundlegende Veränderung, die alle Bereiche des Unternehmens betrifft. Daten sind der Schlüssel, um Prozesse zu optimieren, Kosten zu senken und innovative Medikamente zu entwickeln. Unternehmen, die ihre Daten systematisch nutzen und in digitale Technologien investieren, werden langfristig wettbewerbsfähig bleiben und die Zukunft der Medizin mitgestalten.
Die pharmazeutische Industrie unterliegt strengen regulatorischen Anforderungen. Die Good Manufacturing Practice (GMP) legt fest, wie Produktionsprozesse dokumentiert und überwacht werden müssen. Die European Medical Agency (EMA) und die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) fordern zusätzlich, dass alle Daten manipulationssicher und nachvollziehbar gespeichert werden.
Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Ut elit tellus, luctus nec ullamcorper mattis, pulvinar dapibus leo.
Die digitale Transformation ist nicht nur eine technische, sondern auch eine organisatorische und kulturelle Herausforderung. Mitarbeiter müssen für die neuen Technologien und Prozesse gewonnen werden.
Die Digitalisierung ist erst der Anfang. In Zukunft werden weitere Technologien die Pharmabranche verändern:
Die digitale Transformation in der Pharmabranche ist kein kurzfristiger Trend, sondern eine grundlegende Veränderung, die alle Bereiche des Unternehmens betrifft. Daten sind der Schlüssel, um Prozesse zu optimieren, Kosten zu senken und innovative Medikamente zu entwickeln. Unternehmen, die ihre Daten systematisch nutzen und in digitale Technologien investieren, werden langfristig wettbewerbsfähig bleiben und die Zukunft der Medizin mitgestalten31620.
Die Fallstudie zeigt eindrucksvoll, wie aus einem Datenchaos eine datengesteuerte Produktion werden kann. Die Integration, Analyse und Nutzung von Daten ermöglicht es, Produktionsprozesse zu optimieren, Qualität zu sichern und Kosten zu senken. Die digitale Transformation ist kein Selbstzweck, sondern eine Notwendigkeit für die Pharmabranche – heute und in Zukunft.
Als Interim-Manager, verantwortlich für die Digitalisierung und die Digitale Transformation in diesem Pharmaunternehmen, konnte ich die digitale Transformation des Unternehmens maßgeblich vorantreiben. Meine Erfahrungen habe ich in folgenden Publikationen und Vorträgen weitergegeben:
Die Diskussion auf LinkedIn können Sie unter https://www.linkedin.com/posts/claus-michael-sattler_ohne-daten-f%C3%BChren-hei%C3%9Ft-blind-fliegen-activity-7336266779419140098-c5V_ verfolgen.